Kessel am „Tag X“: Anzeigen gegen die Polizei – und viele offene Fragen

Der Polizeikessel in Leipzig beschäftigt Polizei, Staatsanwaltschaft und Betroffene – immer wieder tauchen neue Details auf. Die wichtigsten Punkte im Überblick.

Als Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) sich nach einer Sondersitzung des Innenausschusses zum Polizei-Einsatz am „Tag X“ äußerte, war kein Zweifel bei ihm zu erkennen: „Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Einsatzführung die verhältnismäßigste Möglichkeit war, in Leipzig keine Scherbendemo zu haben.“ Doch wenn man mit Eltern spricht, deren Kinder stundenlang in einem Kessel saßen, mit Juristen, die sie beraten, dann fällt oft dieser Satz: „Die Aufarbeitung hat jetzt erst begonnen.“ Tatsächlich gibt es immer wieder neue Details – mittlerweile liegen auch Anzeigen gegen Polizeibeamte vor.

Was ist noch mal passiert?

Nach dem Urteil gegen eine linksextreme Gruppe mobilisierten linke, aber auch gewaltbereite Gruppen zum „Tag X“. Nach dem Verbot einer entsprechenden Demonstration versammelten sich in der Südvorstadt etwa 1500 Menschen, um für das Versammlungsrecht zu demonstrieren. Darunter befanden sich auch Vermummte, die schließlich mit Steinen und Böllern warfen – ein Molotowcocktail flog in Richtung einer Gruppe von Polizisten. Die Beamten drängten die Teilnehmer der mittlerweile aufgelösten Demonstration zum Heinrich-Schütz-Platz und umstellten ihn.

Polizeikessel gibt es immer wieder – warum ist das Vorgehen trotzdem besonders?

Da sind die Dimensionen: Ungefähr 1000 Menschen drängten sich bis zu elf Stunden zwischen Büschen und Spielplatz, die Hälfte stammte nicht aus Sachsen. In der Masse befanden sich auch 80 strafmündige Jugendliche. Mehrere Personen erzählen von hygienisch schwierigen Bedingungen und mangelnder Versorgung. Den Menschen wurde kollektiv schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen – sie mussten sich einer umfassenden Identitätsfeststellung unterziehen: Polizisten kopierten die Ausweise, machten Fotos, durchsuchten einzelne Personen. Viele mussten ihre Handys abgeben, sie gelten als mögliches Beweismittel. Am Ende gab es 30 Festnahmen, fünf Haftbefehle. Nach dem Wurf mit dem Molotowcocktail ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen versuchten Mordes gegen Unbekannt.

Wie begründen die Sicherheitsbehörden die Maßnahme?

Deeskalation durch Stärke – so umreißt Leipzigs Polizeipräsident René Demmler die Strategie an jenem 3. Juni. 3000 Beamte aus ganz Deutschland waren im Einsatz. Ihre selbst gestellte Aufgabe war es, Leipzig abzusichern, dafür zu sorgen, dass Veranstaltungen wie das Stadtfest ungestört laufen können. Der Kessel war demnach eine nötige Maßnahme, um Straftaten aufzuklären – und weitere zu verhindern. Ein entsprechender richterlicher Beschluss lag offenbar vor. Die Polizei ging selbst zunächst von 300 Personen im Kessel aus. Die lange Bearbeitungszeit begründet man auch mit mangelnder Kooperationsbereitschaft.

„Wer wollte, kam extrem schnell raus“, sagt Sachsens Innenminister. Hat er damit Recht?

Es gab an dem Tag tatsächlich mehrere Durchsagen der Polizei, die Aufforderung sich von Störern zu distanzieren, den Hinweis auf polizeiliche Maßnahmen. Als die ersten Steine flogen, versuchten sich friedliche Demonstranten in Richtung Heinrich-Schütz-Platz zurückzuziehen, wo sie in den Kessel gerieten und nicht mehr wegkonnten. Dieses Bild ergibt sich aus einer Vielzahl von Gesprächen, die LVZ-Reporter geführt haben. Dass sie sich einer freiwilligen Identitätsfeststellung verweigerten, begründeten Betroffene mit einem Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte.

Der Innenausschuss hat sich mit dem Thema beschäftigt – mit welchem Ergebnis?

Innenminister Schuster hat die Einkesselung und den Polizeieinsatz im Ausschuss verteidigt. Die Polizeiführung erläuterte mit Videoaufnahmen, wie sich die Lage in Leipzig darstellte. Allerdings sind entscheidende Fragen rund um die Einkesselung offen: Warum wusste die Polizei lange Zeit nicht, wie viele Personen festgehalten wurden? Wann wurden die Demonstranten wie mit Trinkwasser und Verpflegung versorgt? Wieso mussten viele Eingeschlossene ihre Notdurft anscheinend alle in einem Busch verrichten? Deswegen haben die Abgeordneten von Linken, Grünen und SPD nach wie vor Klärungsbedarf. Sie sehen nicht, dass das Vorgehen der Polizei verhältnismäßig war. Das Innenministerium hat angekündigt, alle Fragen in den nächsten Wochen zu klären und auch anonyme Beschwerden ernst zu nehmen.

Auf Twitter wurde über vermummte Polizisten bei der Demo spekuliert: Was ist da dran?

Im Internet wurde ein Foto vom „Tag X“ verbreitet, dass zwei vermummte Personen im Gespräch mit dem Führungsstab der Einsatzkommandos zeigen soll.

In der Sondersitzung des Innenausschusses wurde bestätigt, dass es sich dabei um Kriminalpolizisten handelt. Zuerst hatte die Onlineausgabe der „Zeit“ darüber berichtet. Bislang ist allerdings offen, wo die beiden Polizisten genau im Einsatz und ob sie Teil des Demogeschehens waren. Innenminister Schuster hat auf Nachfragen mitgeteilt, dass während der Demonstration auch sogenannte Tatbeobachter eingesetzt wurden. Sie behalten die Lage im Blick und sollen beispielsweise Straftäter identifizieren.

Es gibt jetzt Ermittlungen und Anzeigen, auch gegen Beamte. Was steckt dahinter?

Besonders die Eltern der Minderjährigen im Kessel haben sich mittlerweile vernetzt – sie werfen der Polizei einen Verstoß gegen den Jugendschutz vor. Es gibt entsprechende Meldungen beim Jugendamt, das mittlerweile aber auch selbst tätig ist. Der LVZ liegt außerdem die Anzeige einer Mutter wegen Entziehung Minderjähriger und Freiheitsentzug vor. Ein Jugendlicher hat wegen schwerer Körperverletzung Anzeige erstattet. Er habe mehrere Schläge abbekommen, sei ohnmächtig geworden. Die Polizei ermittelt selbst gegen zwei Beamte, zwei weitere Verfahren werden noch geprüft. Eine Anfrage zu den konkreten Vorwürfen konnte die zuständige Staatsanwaltschaft nicht rechtzeitig beantworten. Außerdem sind derzeit mehrere Beschwerden beim Amtsgericht Leipzig in Vorbereitung – unter anderem wegen der beschlagnahmten Handys.

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gefunden bei der LVZ am 15.06.2023